Wirtschaftsethnologie und Politische Anthropologie - Staatenbildung und die Ökonomie von Kula und Potlatch

Service beschreibt in den "Ursprünge des Staates und der Zivilisation", den Ursprung Sekündärer Staaten am Beispiel der Cherokee.
Bei den Cherokee-Indianer war die politische Organisation von den sie führenden Priester-Häuptlingen getrennt. Diese Gewaltenteilung war eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung des neuen Staates. Die judikative Funktion war wie in allen erblichen Häuplingstümern gering.

Wie bei den Zulu, kann deren Staatenbildung als Resultat, wenn auch in anderer Form, auf die Kolonisation durch die Europäer zurückgeführt werden. Immer mehr übernahmen die Krieger-Häuptlinge die Position der Priester-Häuplinge, und Krieger wurden zu Entscheidungen des Stammesrates hinzugezogen.
Um die Kolonisation voranzutreiben, wollten die Siedler Kentucky von den Cherokee-Indianer kaufen. Die Krieger, die mit diesem Plan nicht einvertsanden waren wurden in Kämpfe verwickelt. (Es ging um Republikaner und Königstreue.) Es kam zur Spaltung des Stammes in "Priester-Aministration" und "Krieger-Administration", gleichzeitig auch in Alte und Junge, da die "Priester-Aministration" aus alten Männern bestand, und durch die "Weißen Männer" der Staat der Cherokee-Indianer gebildet wurde.

Die Cherokee-Gesellschaft

Die Cherokee-Gesellschaft unterschied sich von anderen Häuptlingstümern jener Jahre darin, dass es in ihr keine durch Primogenitur vererbten, permanenten Autoritätsämter gab.

Gearing nennt die Cherokee-Gesellschaft als Ganze eine »jural Community« (a. a. O., S. 79). D. h. die Dörfer bekämpften einander normalerweise nicht, obwohl sie keiner höheren Autorität unterstanden. Statt dessen fühlte man sich verpflichtet, Zwistigkeiten durch Vermittlung zu regeln, und es gab eigens Beamte, die bei solchen Regelungen helfen mussten. Natürlich ist anzunehmen, dass die Friedlichkeit der Cherokee-Dörfer untereinander zum großen Teil dem Bewusstsein entsprang, dass die größere Gefährdung der Cherokee-Gesellschaft von außen drohte.

Der Staat der Cherokee

Die Beziehungen der europäischen Siedler zu den Cherokee waren bis nach 1699, als zwischen Frankreich und England der Kampf um die Beherrschung des Südostens entbrannte, sporadisch und eher selten. Die Siedlungen in Carolina generell und die Cherokee-Dörfer im Besonderen wurden zu Verbündeten gegen Frankreich und die mit den französischen Siedlern verbündeten Stämme. Innerhalb weniger Jahre waren in einigen größeren Cherokee-Dörfern offizielle Handelsposten der Regierung von Carolina etabliert worden, doch waren die direkten Beziehungen zu Europäern zu dieser Zeit weniger bedeutsam als der Druck von sehen der indianischen Umgebung, in der es jetzt zunehmend garte. Zu feindseligen Kontakten kam es besonders häufig mit den Creek-Indianern im Süden. Feinde an der Südwestflanke waren die Chicasaw und die Choctaw. Die Shawnee im Nordosten waren mit Frankreich verbündet und gegenüber den Cherokee von gleichbleibender Feindseligkeit.

Herrschaftsstruktur und Staat

Jedes Cherokee-Dorf war in seinen Entscheidungen bezüglich seiner Beziehungen nach außen unabhängig. Da aber allen Dörfern dieselbe Sprache und Kultur gemeinsam war und sie auch eine gewisse Tauschheirat praktizierten, lag es nahe,  dass benachbarte Dörfer ihr Vorgehen koordinierten. Von Zeit zu Zeit erwiesen sich dann manche Dörfer mit ihren Entscheidungen gegenüber anderen als einflussreicher. Dieser Einfluß hing vom Prestige des Priester-Häuptlings, vielleicht auch von der Größe und dem Prestige des Dorfes aufgrund eines gerade errungenen Erfolges, vor allem aber von seiner Lage ab (exponiert oder geschützt, bequemerer oder leichterer Zugang zu einem Handelsposten). Es existierte aber keinerlei Herrschaftsstruktur, die für den Stamm als ganzen hätte handeln können. Es gab lediglich das sporadisch errungene Prestige einiger Dörfer und ihrer Führer. Die sieben Clans, die in jedem Dorf ihre Vertreter hatten, waren ein wichtiger Faktor, um eine friedliche Stimmung der Dörfer herbeizuführen oder zu beeinflussen, aber sie waren zu keiner Zeit politisch aktive Gruppen. Nach ihrem Selbstverständnis aber bildeten die Cherokee-Dörfler als Ganzes einen Verband, der sich gegen die Außenwelt abhob - das ist es, was Gearing mit »jural Community« meint.

Unterdessen neigten die Bewohner South Carolinas dazu, die Cherokee als eine politische Einheit zu behandeln. Das wurde in dem Augenblick offenkundig, als Übergriffe eines einzelnen Cherokee gegen die Siedler Repressalien gegen beliebige andere Cherokee nach sich zogen. Als sich Zwischenfälle wie das Bestehlen oder Belästigen eines kolonialen Händlers häuften, wurde klar,  dass das vordringlichste politische Problem für den ganzen Stamm darin bestand, Mittel und Wege gegen unbefugte Violenz von Seiten der Cherokee-Krieger zu finden. Bis eine Lösung erreicht war, sollten mehr als dreißig Jahre vergehen. Die »rote« Ratsstruktur für das Kriegswesen wurde zum ersten Modell einer Stammesstruktur, die Verhandlungen mit Außenstehenden, namentlich der Kolonie South Carolina zuließ. Eine wesentliche Funktion dieser Verhandlungen war es, den Repressalien der Siedler als Antwort auf Cherokee-Übergriffe durch eigene Zwangsmittel zuvorzukommen. Als erster Schritt auf dem Weg zu einer politischen Stammesherrschaft war dies zweifellos bedeutsam; allerdings wurden unbefugte Übergriffe damit noch nicht gänzlich unterbunden.

Im Jahre 1730 bereiste ein Schotte namens Sir Alexander Cuming das Gebiet der Cherokee und bewog die größeren Dörfer dazu, dem Stamm einen »Kaiser« zu geben. Die Wahl fiel auf Moytoy, einen Kriegshäuptling aus dem Dorf Tellics. Die Sache wurde von den wenigsten Dörfern akzeptiert, aber es war doch eine Idee geboren, und etwa 20 Jahre später schien die Institution des Stammesführers gefestigt, wenn auch noch nicht wirklich stark zu sein. Moytoy starb 1741; ihm folgte sein Sohn Amouskositte, der immer noch die Kriegsorganisation repräsentierte. Die vordringlichste Aufgabe bestand nach wie vor darin, unbotmäßige junge Leute an Übergriffen gegen Händler und Siedler zu hindern. Bei derartigen Vorfällen pflegte nämlich regelmäßig der Handel eingestellt zu werden, und alle Cherokee-Dörfer hatten unter den Missetaten einiger weniger zu leiden. Aufgabe des typischen Kriegshäuptlings war es, mit der Regierung in Charles Town (Charleston) zu verhandeln. Die Regierungstätigkeit nach innen dagegen, z. B. die Bestrafung von Delinquenten, sah man immer noch als Aufgabe des »weißen« Rates an. Nach und nach, in den 1750er Jahren, wurde der Kriegshäuptling für die meisten Aufgaben durch Old Hop ersetzt, einen greisen »beloved man«, der sich eines großen Ansehens als Prister-Häuptling erfreute. 1758 ist eine echte Stammesstruktur regulär wirksam, die sich an das traditionelle Muster der dörflichen Stammesräte anlehnt. Old Hop starb 1761 und wurde durch einen alten Mann namens Standing Turkey abgelöst, den »großen geliebten Weisen der Nation«. Man kann hierin einen Beweis dafür sehen,  dassdie Stammespolitik nunmehr eine wirkliche Struktur besaß und nicht mehr nur von der Persönlichkeit eines Old Hop geprägt wurde. Ein Stammesrat tagte mindestens einmal jährlich im Hauptdorf (Echota). An der Spitze des Stammesrates stand das Ältestengremium des Hauptdorfes: der örtliche Prister-Häuptling (Old Hop und nach ihm Standing Turkey); seine drei Assistenten; der Sprecher; und der Dorf rat der sieben Clan-Vertreter. Die übrigen Dörfer des Stammes waren durch ihren Priester-Häuptling und dessen Assistenten und vielleicht noch durch einige Mitglieder des Clan-Rates vertreten. Die jährliche Hauptversammlung wurde im Rahmen des Neujahrsfestes abgehalten.

Von Priestern zu Kriegern

Zweieinhalb Jahre lang, von 1760 an, befanden sich die Cherokee und die Bewohner von South Carolina im offenen Krieg miteinander. Nach dem Friedensschluss hielten die Übergriffe von Siedlern auf Cherokee-Gebiet an und provozierten entsprechende Vergeltungsschläge. Das erste Zeugnis für echte Zwangsmaßnahmen der Cherokee gegen unkontrollierte Aktionen ihrer Krieger finden wir in einem Brief von Standing Turkey, in dem es heißt: »Wir sind dabei, ein festes Haus (a Strong House) zu bauen, und der erste unserer Leute, der den Engländern irgendein Übel zufügt, wird in dieses Hauses getan, bis ihn die Engländer holen . . .« 1768 ist ein Umschwung der öffentlichen Meinung zu bemerken, als Great Warrior, ein Kriegs-Häuptling, die Funktion des Priester-Häuptlings übernimmt. Zu dieser Zeit werden bereits Krieger zu den Entscheidungen des Stammesrates hinzugezogen, und alte Krieger bildeten eine hochgeachtete Gruppe. 1774 erkundete Daniel Boone den heute als Kentucky bekannten Teil der Cherokee-Domäne und legte einen Plan zu dessen kolonialer Erschließung vor. 1775 trafen Grundstücksinteressenten mit Cherokee-Häuptlingen zusammen und schlugen ihnen den Verkauf Kentuckys vor. Die alten Häuptlinge - Great Warrior, Little Carpenter usw. - gingen auf das Angebot ein, während die Jüngeren unter Führung von Little Carpenter's Sohn, Dragging Canoe, dagegen waren. Bei Ausbruch der amerikanischen Revolution hatten die Königstreuen den Einfall, Dragging Canoe und seine Gefolgsleute mit Waffen auszurüsten und gegen die Aufständischen entlang der Grenze aufzuhetzen. Die amerikanischen Revolutionäre schoben natürlich der gesamten Cherokee-Nation die Schuld in die Schuhe, attackierten sie heftig, verbrannten ihre Häuser und zerstörten die Ernte. Die jüngeren Krieger zogen mit ihren Familien südwärts und errichteten neue Siedlungen (später unter dem Namen Chicamaugas bekannt), während der Rest des Stammes an Ort und Stelle verharrte. Diese Zersplitterung des Stammes nach Altersklassen war weithin auch eine Spaltung zwischen »weißer« Priester-Administration und »roter« Kriegs-Administration. Die nunmehrige räumliche Trennung ließ die jeweilige Einseitigkeit und die Unzulänglichkeiten dieser beiden Regimes hervortreten. In den ursprünglichen Dörfern saßen liebenswerte alte Männer und sahen ohnmächtig zu, wie die theokratischen Stammesräte zerfielen und der Stamm auseinanderbrach; in den Chicamaugas entledigte man sich der Struktur völlig, die violenten jungen Männer agierten hemmungslos und unbesonnen, und die Starken, Unerschrockenen beherrschten die Schwächeren in einer Art gesetzlosem Alptraum.

Autorität versus Gewalt

Gearing ist der Ansicht,  dass sich die wesentlichen Prozesse der Staatsbildung bei den Cherokee auch bei den frühen Mesopotamiern finden. Er vertritt ferner den Standpunkt,  dass es sich bei diesen Prozessen um eine in der Welt immer wieder anzutreffende Erscheinung handele - zwar nicht den einzigen Weg zum Staat, aber doch einen häufig zu beobachtenden, weil er funktional aus einer bestimmten, in der primitiven Welt verbreiteten Art dörflich-politischen Systems hervorgehe. Dieses Dorfsystem kann zur Unterlage eines Staates werden, weil dessen elementare Bestandteile bereits vorhanden sind und nötigenfalls nur des äußeren Druckes bedürfen, um formalisiert zu werden. Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln sahen und auch in der Folge noch feststellen werden, geht für gewöhnlich - vielleicht sogar universell - eine Phase des Häuptlingstums dem Aufstieg eines historisch bekannten Staates voraus. Die einzelnen Cherokee-Dörfer sind dem sehr ähnlich, was ich Häuptlingstum genannt habe; das bedeutsamste Merkmal ist natürlich die zentralisierte theokratische Führung. Gearing hat etwas sehr Wesentliches erkannt, wenn er auf die Bedeutung dieser dörflichen Struktur als der Unterlage des späteren Staates hinweist.

Ein weiterer wichtiger Beitrag ist seine Unterscheidung zwischen verschiedenen »structural poses«, die einerseits die theokratische politische Führung (Priester-Häuptlinge und Ältestenräte), andererseits die weltliche Militärführung auszeichneten. Gearings Nachdruck liegt allerdings auf sozialpsychologischen Aspekten der in den beiden Strukturen tätigen Personen - d. h. auf den Persönlichkeitstypen und Verhaltenskodices, die die beiden politischen Strukturen für ihren jeweiligen Handlungskontext selegier-ten. Das ist gewiß interessant, doch möchten wir für unsere komparativen Zwecke auf die mehr institutionellen Aspekte abheben. Wie wir in den folgenden Kapiteln noch sehen werden, bewirkt das Auftreten neuer oder größerer äußerer politischer Probleme von Krieg und Frieden eine Art von »Gewaltenteilung«, die normalerweise die Einrichtung bürokratischer Ämter für das Militär forciert, im Unterschied zu rein theokratischen. Man kann das auch anders und für unsere sehr breiten Zwecke glücklicher sagen: die auf der Macht der Autorität gründende Organisation (der »weiße« Rat und die Priester-Häuptlinge) kann sich außerstande sehen, gewisse neuartige Probleme der politischen Stabilität zu lösen, und lässt daher die Schaffung einer weiteren Organisation zu (der »rote« Rat und die Militärführer), die eine auf Gewalt basierende politische Macht ausübt. Die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Organisationen zueinander ist, wie in Kapitel 1 ausgeführt, das Hauptanliegen unseres Buches. Ich finde es faszinierend,  dass schon die Cherokee in einem ganz realen Sinn die fundamentale Diskrepanz zwischen Autorität und Gewalt erkannt und sich kulturelle Mittel geschaffen haben, um beides auseinanderzuhalten - wie um eine Kontamination zu vermeiden. Das Autoritätssystem - die Theokratie - war für die Cherokee die ideale Form der Regierung; der Gebrauch von Gewalt war nicht nur eine Verlegenheitsauskunft, sondern auch irgendwie unschicklich, so  dass Reinigungsriten vonnöten waren, sobald man eine abstoßende Art von notwendiger Pflicht erfüllt hatte.

Von hohem Interesse ist ferner der Umstand, dass sich die Cherokee trotz häufiger und heftiger externer Konflikte eindeutig nicht zum Eroberungsstaat entwickelten und auch nicht die Übernahme der Gesellschaft durch die Kriegsorganisation oder deren Führer erlebten, wie Herbert Spencer argumentiert haben könnte. Im Gegenteil, der Staat wurde durch Old Hop und Standing Turkey gebildet, zwei dörfliche Priester-Häuptlinge. Und später, in den Chicamaugas, erwies sich bei den jungen Cherokee die Kriegsorganisation allein als untaugliches Herrschaftssystem. Der Krieg als »äußerer Druck« lieferte der theokratischen Führung den um weltlichen Stimulus, um bewusst die Position der Kriegsführer zu stärken. Der eigentliche Ursprung des Staates aber - des im »festen Haus« verkörperten Strafgesetzes - lag eindeutig bei der theokratischen Führung, der der Staat als eine Art bürokratischer Notbehelf diente.