Politische Anthropologen

Wirtschaftsethnologie und Politische Anthropologie - Staatenbildung und die Ökonomie von Kula und Potlatch

Eine differenzierte, nicht mehr implizite, sondern explizit als solche verstandene politische Anthropologie entwickelt sich nach 1920. Sie geht von der alten Problematik aus, aber sie arbeitet mit den neuen Ergebnissen der ethnographischen Forschung. Sie nimmt die schon zu Beginn des Jahrhunderts („Der Staat“, 1907) von Franz Oppenheimer aufgenommene Frage des Staats, seines Ursprungs und seiner ersten Ausprägungen erneut vor.

Im Abstand weniger Jahre erscheinen zwei wichtige Untersuchungen, die sich mit dem gleichen Gegenstand befassen: „The Origin of the State Reconsidered in the Light of the Data of Aboriginal North America“ (1924) von W. C. MacLeod, der die von den amerikanischen Ethnographen zusammengetragenen Zeugnisse verarbeitet, und „The Origin of the Stage“ (1927) von R. H. Lowie, der die Rolle innerer (die soziale Differenzierung auslösender) und äußerer (aus der Eroberung resultierender) Faktoren bei der Bildung von Staaten bestimmt. Sie berufen sich auf einen ausdrücklich wissenschaftlichen Ansatz, der sich auf Tatsachen gründet, und wollen sich deutlich von den Unternehmungen der politischen Philosophie unterscheiden. Das Ursprungsproblem beschäftigt ebenfalls Sir James G. Frazer; er untersucht die Beziehungen zwischen Magie, Religion und Macht und wird damit der Initiator jener Arbeiten, die die Beziehung zwischen der Macht und dem Sakralen erhellen. Es werden neue Forschungsbereiche erschlossen, wobei es auch zur Anerkennung und Interpretation exotischer Verfassungstheorien kommt: 1927 veröffentlicht Beni Prasad seine „Theory of Government in India“6. Die Politikwissenschaftler beginnen, kurze Streifzüge in die Anthropologie in ihre allgemeinen Werke einzuflechten.

In den zwanziger Jahren erschienen zahlreiche Arbeiten zum politischen Denken der Hindus; unter den Verfassern seien U. Ghostal (1923), Ajir Kumar Sen (1926) und N. C. Bandyopadhaya (1927) erwähnt.

In den ersten anthropologischen Abhandlungen finden die politischen Sachverhalte nur sehr beschränkt Platz, in Franz Boas' „General Anthropology“ ist den Problemen der Regierung ein Kapitel eingeräumt; in „Primitive Society“ gibt R. H. Lowie eine systematische Darstellung seiner Thesen und eine knappe Übersicht der wichtigsten Ergebnisse. Aber der entscheidende Umschwung in der Anthropologie vollzieht sich in den dreißiger Jahren, als die Felduntersuchungen und die daraus resultierenden theoretischen und methodologischen Arbeiten sich häufen. Die Untersuchungen über die segmentären (die sogenannten »staatslosen) Gesellschaften, über die Strukturen der Verwandtschaft und die darin geltenden Beziehungsmuster führen zu einer genaueren Abgrenzung des Bereichs des Politischen und zu einem besseren Verständnis der Vielfalt seiner Aspekte.

Die schnellsten Fortschritte werden in der Afrikanistik verzeichnet. Hier sind die untersuchten Gesellschaften in größerem Maßstab organisiert; die Differenzierung der Verwandtschaft und der im eigentlichen Sinn politischen Beziehungen tritt hier deutlicher als in den »archaischen« Mikrogesellschaften zutage. Im Jahre 1940 erscheinen drei mittlerweile klassische Arbeiten, zwei darunter von E. E. Evans-Pritchard, in denen die Ergebnisse direkter Untersuchungen mitgeteilt werden und neue theoretische Implikationen enthalten sind. In „The Nuer“ wird eine Gesellschaft vom Nil in allgemeinen Umrissen dargestellt; gleichzeitig werden die politischen Beziehungen und Institutionen eines Volkes aufgezeigt, das scheinbar keine Regierung kennt: Es wird bewiesen, dass eine »geordnete Anarchie« bestehen kann. „The Political System of the Anuak“ ist eine reine Studie der politischen Anthropologie über ein den Nuer benachbartes sudanesisches Volk, das zwei unterschiedliche und miteinander konkurrierende Regierungsformen entwickelt hat. Das dritte Werk ist eine von Evans-Pritchard und M. Fortes geleitete Sammlung mit dem Titel „African Political Systems“; es kann als vergleichendes Werk gelten, weil es deutlich differenzierte »Fälle« darstellt; es enthält eine theoretische Einführung und den Entwurf einer Typologie; M. Gluckman hält es für den ersten wichtigen Beitrag, der beabsichtigt, der politischen Anthropologie den Status einer Wissenschaft zu geben. Die Herausgeber bringen allerdings ihre Distanz gegenüber den »Philosophen des Politischen« zum Ausdruck, die sich weniger darum kümmern zu »beschreiben« als vielmehr zu »sagen, was für eine Regierung die Menschen sich geben sollten.« Es gibt natürlich Einwände gegen diese Behauptung, aber es gibt kaum einen Fachkollegen, der nicht bekundete, was er diesen beiden großen Anthropologen verdankt.

Quelle: Balandier, George: Politische Anthropologie, München 1972

Anthropologen nach 1945

Nach 1945 steigt die Zahl der politisch forschenden Afrikanisten sehr schnell. Ihre Studien sind das Ergebnis vor allem einer intensiven Feldforschung, die sowohl die segmentären (Fortes, Middleton und Tait, Southall, Balandier) wie die staatlichen Gesellschaften (Nadel, Smith, Maquet, Mercier, Apter, Beattie) erfasst. Sie führen zu theoretischen Untersuchungen und zu Regionalsynthesen, in denen verwandte Systeme einander gegenübergestellt werden - wie etwa die segmentären Lineage-Systeme in dem 1958 von Middleton und Tait herausgegebenen  Tribes without Rulers  oder die staatlichen Systeme des ostafrikanischen Seengebiets in dem 1962 von L. Mair veröffentlichten  Primitive Governmemt I. Schaperas 1956 erschienenes Government and Politics in Tribal Societies  ist - wie der Titel nahelegt - allgemeiner Natur, auch wenn er sich ausschließlich auf Beispiele aus Südafrika stützt; es werden darin die Mechanismen untersucht, auf denen das Funktionieren primitiver Regierungen beruht, sowie gewisse terminologische Fragen erläutert. Die neueren Untersuchungen, die sich an der Situation orientieren, welche nach der Unabhängigkeit entstand, stellen eine Verbindung von politischer Anthropologie und politischer Wissenschaft dar (Apter, Colemann, Hodgkin, Potekhin, Ziegler). An ihnen zeigt sich die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit.

E. R. Leach

(Sir Edmund Ronald Leach * 7. November 1910 in Sidmouth, England; † 6. Januar 1989 in Cambridge, England, war ein britischer Ethnosoziologe.)

Ein Werk beherrscht die Fachliteratur außerhalb der Afrikanistik: Er vertrat die eklektizistischere Variante der britischen Social Anthropology. befasst sich in  Political Systems of Highland Burma  (1954) mit den politischen Strukturen und Organisationen der Katschin in Birma. Er hebt den politischen Aspekt der sozialen Phänomene hervor. In der Nachfolge Nadels (und seiner Vorgänger) setzt er Gesamtgesellschaft und  politische Einheit  gleich, während die gesellschaftlichen Strukturen aufgefasst werden als die  Vorstellungen über die Machtverteilung zwischen den Personen und Personengruppen . Der wichtigste Beitrag E. R. Leachs besteht darin, dass er einen dynamischen Strukturalismus entwickelt, der viele wertvolle Anregungen für die politische Anthropologie enthält. Er zeigt, dass die sozio-politischen Gleichgewichtszustände relativ instabil sind.

4) Gluckman, M.: Order and Rebellion in Tribal Africa. London 1963, S. 4.

5) Morgan, L. H.: Ancient Society. 1877, S. 6 ff., 61.

Quelle: Balandier, George: Politische Anthropologie, München 1972