Wirtschaftsethnologie und Politische Anthropologie - Staatenbildung und die Ökonomie von Kula und Potlatch

Marvin Harris

Geboren: 18. August 1927, Brooklyn, New York City, New York, Vereinigte Staaten. Gestorben: 25. Oktober 2001, Gainesville, Florida, Vereinigte Staaten. Marvin Harris war ein US-amerikanischer Anthropologe und der bedeutendste Vertreter der Theorie des Kulturmaterialismus

(* 18. August 1927 in Brooklyn; † 25. Oktober 2001 in Gainsville, Florida)[1] war ein US-amerikanischer Anthropologe und der bedeutendste Vertreter der Theorie des Kulturmaterialismus (engl. Cultural Materialism).Die Mitglieder der Manchester School of Anthropology, so auch M. Harris, vertraten die Ansicht, dass das alte, von Bronisław Malinowski mit geprägte Prinzip des britischen Funktionalismus nicht mehr aufrechtzuerhalten sei, dass nur die Gegenwart zähle und Prozesse und historische Veränderungen als sekundär an zu sehen sind. Harris gilt als Vertreter des Kultur-Materialismus.
Der US-amerikanische Kulturanthropologe Marvin Harris erklärte gesellschaftliche Erscheinungen gemäß der Theorie des Mehr "Kulturmaterialismus" vor allem aus deren praktischer Notwendigkeit. Mit seinen Thesen erreichte er zwar eine breite Öffentlichkeit, blieb unter seinen Kollegen aber umstritten und galt sozusagen als "Schwarzes Schaf" der Zunft. Am 25. Oktober starb er in Gainsville, Florida im Alter von 74 Jahren. Vereinfacht gesagt ist der Kulturmaterialismus eine Theorie, die kulturelle und soziale Erscheinungen stets aus praktischer Notwendigkeit ableitet. Danach haben etwa spezifische Nahrungstabus wie in Judentum, Islam und Hinduismus oder die Menschenopfer der Azteken ihre Ursprünge in den jeweiligen technisch-ökologischen Eigenschaften dieser Gesellschaften.

Vancouver Island

Potlatch

Quelle: Marvin Harris, Fauler Zaubere, Klett-Cotta, 1974, Potlatch S. 117-138.

Anfang dieses Jahrhunderts stellten Ethnologen überrascht fest, dass bestimmte primitive Stämme demonstrativen Konsum und demonstrative Verschwendung in einem Maße trieben, wie es nicht einmal die verschwenderischsten unter den modernen Konsumgesellschaften fertigbrachten.

Die bizarrste Form dieser Geltungssucht entdeckte man bei den nordamerikanischen Indianern, die früher die Küstenregionen des südlichen Alaska, der kanadischen Provinz British Columbia und des Bundesstaats Washington bewohnten.

Beim Potlatch besteht das Ziel darin, mehr Reichtum zu verschenken oder zu zerstören als der Konkurrent. Wenn der Veranstalter des Potlatch ein mächtiger Häuptling war, konnte er versuchen, durch die Vernichtung von Lebensmitteln, Kleidung und Geld seine Rivalen zu beschämen und bei seinen Gefolgsleuten ewige Bewunderung zu ernten.

Ruth Benedict hat das Potlatch durch ihr Buch Urformen der Kultur bekannt gemacht. Darin schildert sie seine Funktionsweise bei den Kwakiutl, den Ureinwohnern von Vancouver Island. Benedict sah im Potlatch den Ausdruck einer von Größenwahn beherrschten Lebensweise, die sie für ein Grundmerkmal der Kultur der Kwakiutl hielt.

Ich möchte hier zeigen, dass dem Potlatch der Kwakiutl keine Manie und Willkür, sondern ganz bestimmte ökonomische und ökologische Bedingungen zugrunde liegen

Kwakiutl

Häuptlingsamt und Potlatch

Die Kwakiutl lebten in Blockhüttendörfern in den Regenwäldern aus Zedern und Tannen unmittelbar an der Küste. Sie fischten und jagten in riesigen Einbäumen entlang der inselreichen Buchten und Fjorde von Vancouver Island. Stets eifrig darauf bedacht, Händler anzulocken, machten sie ihre Dörfer dadurch auffällig, dass sie am Strand die riesigen geschnitzten Baumstämme errichteten, die wir fälschlich als „Totempfähle" bezeichnen. Die Schnitzereien an diesen Baumstämmen symbolisierten die Titel, auf die der jeweilige Häuptling des Dorfes kraft Abstammung Anspruch erhob.

Jeder Häuptling fühlte sich verpflichtet, seine Ansprüche auf das Häuptlingsamt zu rechtfertigen und zu bekräftigen.

 Die hergebrachte Weise dafür bestand in der Abhaltung eines Potlatch. Jedes Potlatch wurde von einem gastgebenden Häuptling und seinen Gefolgsleuten für einen Gasthäuptling und dessen Gefolgsleute veranstaltet. Ziel des Potlatch war der Nachweis, dass der gastgebende Häuptling seine Stellung als Häuptling mit Recht innehatte und dass er höher stand als der Gasthäuptling. Diesen Nachweis führte der Gastgeber in der Weise, dass er dem rivalisierenden Häuptling und dessen Gefolgsleuten wertvolle Geschenke in großer Menge überreichte. Die Gäste bekrittelten das Empfangene und schworen, ihrerseits ein Potlatch abzuhalten, bei dem der eigene Häuptling mit noch riesigeren Mengen wertvoller Geschenke.

Mit Geschenken beladen, durften die Gäste schließlich zu ihrem Dorf zurückrudern. Ins Herz getroffen, schworen der Gasthäuptling und seine Gefolgsleute, sich zu revanchieren. Das konnte nur dadurch geschehen, dass man die Rivalen zu einem Gegen-Potlatch einlud und sie zwang, noch größere Mengen Wertsachen anzunehmen, als sie verschenkt hatten. Nimmt man alle Kwakiutl-Dörfer als Einheit, kann man feststellen, dass die Potlatch-Feste einen unablässigen Fluss von Prestige und Wertgegenständen bewirkten, der sich in die eine wie in die andere Richtung bewegte.

Ruth Benedict zufolge war an dem Potlatch-Brauch die obsessive Geltungssucht der Gastgeber schuld. „Gemessen an den Gepflogenheiten in anderen Kulturen, sind die Reden ihrer Häuptlinge Ausdruck schamlosen Größenwahns", schreibt sie. „Alle Unternehmungen der Kwakiutl dienten dem Zweck, sich ihren Rivalen überlegen zu zeigen." Nach ihrer Ansicht stand das gesamte ökonomische System der Eingeborenen am Nordwestpazifik „im Dienste dieses Wahns".

Ich (Marvin Harris, AdV.) glaube, hier irrt Benedict. Das ökonomische System der Kwakiutl stand nicht im Dienste des Wettstreits um gesellschaftliche Geltung; vielmehr stand der Wettstreit um gesellschaftliche Geltung im Dienste des ökonomischen Systems.

Im Kern ist das Potlatch ein festlicher Wettstreit, ein fast universaler Mechanismus, um die Erzeugung und Verteilung von Reichtum bei Völkerschaften sicherzustellen, die noch keine herrschende Klasse im Vollsinn des Wortes ausgebildet haben.

Melanesien und Neuguinea bieten das beste Anschauungsmaterial für diesen festlichen Wettstreit in seiner relativ ursprünglichen Form. Es gibt dort überall sogenannte Große, die ihre herausragende Stellung der Vielzahl von Festen, die jeder von ihnen während seines Lebens veranstaltet, verdanken. Jedem Fest gehen intensive Anstrengungen voraus, die der Anwärter auf den Status eines Großen unternimmt, um den erforderlichen Überfluss anzuhäufen.

Irrte sich Ruth Benedict?

Warum entging die praktische Basis der Potlatch-Institution der Aufmerksamkeit von Ruth Benedict?

Als die Ethnologen das Potlatch zu erforschen anfingen, unterhielten die Eingeborenenvölker an der Nordwestküste des Pazifik längst Handelsbeziehungen mit. Russen, Engländern, Kanadiern und Kaufleuten und Siedlern aus den Vereinigten Staaten. Diese Kontakte hatten rasch Pockenepidemien und den Ausbruch anderer europäischer Seuchen zur Folge, die einen großen Teil der Eingeborenenbevölkerung dahinrafften. Zum Beispiel ging zwischen den Jahren 1836 und 1886 die Bevölkerungszahl bei den Kwakiutl von 23000 auf 2000 zurück.

Prinzip der Gegenseitigkeit

Um den festlichen Wettstreit recht zu verstehen, muss man ihn in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive betrachten. Große wie Atana oder die Häuptlinge der Kwakiutl sorgen für eine Form des ökonomischen Austauschs, die als Umverteilung bezeichnet wird. Das heißt, sie koordinieren die Produktionsanstrengungen vieler einzelner und verteilen dann den angehäuften Reichtum in unterschiedlichen Portionen unter eine andere Gruppe von Menschen

In den wirklich egalitären Gesellschaften, die noch von Ethnologen untersucht werden konnten, weil sie lange genug bestanden, kommt Umverteilung in der Form eines festlichen Wettstreits nicht vor. Statt dessen herrscht die Austauschform, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruht.

Austausch auf Gegenseitigkeit ist der Fachausdruck für eine Form des ökonomischen Austauschs zwischen einzelnen, bei der weder die Art noch der Zeitpunkt der Gegenleistung genau festgelegt ist

Aber um das Prinzip der Gegenseitigkeit wirklich in Geltung zu sehen, muss man in einer egalitären Gesellschaft leben, die kein Geld kennt und in der nichts gekauft oder verkauft werden kann. Das Prinzip der Gegenseitigkeit ist das genaue Gegenteil von exakter Buchführung und Aufrechnung der wechselseitigen Schulden. Tatsächlich soll ja gerade geleugnet werden, dass einer dem anderen irgendetwas schuldet. Ob eine Lebensweise auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basiert oder auf etwas anderem, kann man daran erkennen, ob sich die Menschen bedanken oder nicht. In wirklich egalitären Gesellschaften gilt es als unfein, sich für Güter oder Leistungen, die man empfängt, offen dankbar zu zeigen. Wenn zum Beispiel bei den Semai in Zentralmalaysia ein Jäger an seine Jagdgefährten Fleisch in genau gleichen Portionen austeilt, bedankt sich keiner von ihnen. Robert Denton, der bei den Semai gelebt hat, stellte fest, dass es als ausgesprochen unhöflich gilt, sich zu bedanken, weil das entweder bedeutet, dass man die Größe der Fleischportion, die man erhält, taxiert oder dass man sich über den Erfolg und die Großzügigkeit des Betreffenden wundert.

Der ökonomische Austausch, der vom Prinzip der Gegenseitigkeit bestimmt wird, ist hauptsächlich auf Verhältnisse abgestellt, in denen es dem Überleben der Gruppe abträglich wäre, wenn der Anreiz für intensive zusätzliche Produktionsanstrengungen geschaffen würde. Diese Verhältnisse trifft man bei bestimmten Jäger- und Sammlervölker wie den Eskimo/den Semai und den Buschmännern an, deren Überleben vollständig vom Gedeihen der natürlichen Pflanzen- und Tierbestände in ihrem Lebensraum abhängt. Würden sich die Jäger plötzlich zu einer organisierten Anstrengung zusammenfinden, mehr Tiere zu erbeuten und mehr Pflanzen zu sammeln, sie liefen Gefahr, den Wildbestand in ihrem Gebiet dauerhaft zu schädigen.

Wie gezeigt wurde, konnten dank der Ersetzung des Prinzips der Gegenseitigkeit durch Formen des Wettstreits um gesellschaftliche Geltung in einer bestimmten Region mehr Menschen leben und gedeihen. Nun mag man durchaus nach dem Sinn dieses ganzen Vorgangs fragen, durch den die Menschheit mit List und Tücke dazu gebracht wurde, härter zu arbeiten, nur damit mehr Menschen auf einem Niveau materiellen Wohlergehens leben konnten, das im Wesentlichen nicht höher oder sogar niedriger lag als das der Eskimo oder Buschmänner. Auf diese Frage läßt sich meines Erachtens nur antworten, dass viele primitive Gesellschaften sich genau deshalb weigerten, ihre Produktionsanstrengungen zu vergrößern, und genau deshalb darauf verzichteten, ihre Bevölkerungsdichte zu vergrößern, weil sie feststellten, dass die neuen „arbeitssparenden" Techniken in Wirklichkeit härtere Arbeit bei gleichzeitigem Sinken des Lebensstandards bedeuteten. Aber das Schicksal dieser primitiven Völker war in dem Augenblick besiegelt, als auch nur eines von ihnen - mochte es noch so weit weg von den anderen leben - die Schwelle zur Umverteilung und zur umfassenden Klassenschichtung, die sich daraus entwickelte überschritt. Praktisch alle Jäger- und Sammlervölker auf Basis der Gegenseitigkeit wurden von größeren und mächtigeren Gesellschaften, die ihre Produktion und Bevölkerungszahl so weit wie möglich steigerten und unter der organisatorischen Leitung herrschender Klassen standen, zerstört oder in Rückzugsgebiete abgedrängt. Im Kern war diese Verdrängung Konsequenz der Fähigkeit größerer, erfolgreicherer und besser organisierter Gesellschaften, einfache Jäger- und Sammlervölker in bewaffneten Konflikten zu besiegen. Mehr arbeiten oder untergehen, so lautete die Alternative.