Wirtschaftsethnologie und Politische Anthropologie - Staatenbildung und die Ökonomie von Kula und Potlatch

Die 10 Gebote der Feldforschung von Roland Girtler Wien 2010

Leitspruch:

Es ist die große vornehme Aufgabe des Soziologen und der Soziologin , wie ich meine, durch entsprechende gute Studien, zu denen die Beschreibungen des Alltags von Menschen in ihren Gruppen mit all ihren sozialen Kontakten, ihren Problemen, ihren Strategien des Überlebens, ihren Symbolen und Ritualen gehören, dazu beizutragen, dass Menschen sich gegenseitig akzeptieren und achten.

In diesem Sinn bin ich von der Wichtigkeit der "teilnehmenden Beobachtung" und des ero-epischen (freien) Gespräches überzeugt. Daher habe ich "10 Gebote der Feldforschung" entwickelt:

  1. Du sollst einigermaßen nach jenen Sitten und Regeln leben, die für die Menschen, bei denen du forschst, wichtig sind. Dies bedeutet Achtung ihrer Rituale und heiligen Zeiten, sowohl in der Kleidung als auch beim Essen und Trinken. – Si vivis Romae Romano vivito more!
  2. Du sollst zur Großzügigkeit und Unvoreingenommenheit fähig sein, um Werte zu erkennen und nach Grundsätzen zu urteilen, die nicht die eigenen sind. Hinderlich ist es, wenn du überall böse und hinterlistige Menschen vermutest.
  3. Du sollst niemals abfällig über deine Gastgeber und jene Leute reden und berichten, mit denen du Bier, Wein, Tee oder sonst etwas getrunken hast.
  4. Du sollst dir ein solides Wissen über die Geschichte und die sozialen Verhältnisse der dich interessierenden Kultur aneignen. Suche daher zunächst deren Friedhöfe, Märkte, Wirtshäuser, Kirchen oder ähnliche Orte auf.
  5. Du sollst dir ein Bild von der Geographie der Plätze und Häuser machen, auf und in denen sich das Leben abspielt, das du erforschen willst. Gehe zu Fuß die betreffende Gegend ab und steige auf einen Kirchturm oder einen Hügel.
  6. Du sollst, um dich von den üblichen Reisenden zu unterscheiden, das Erlebte mit dir forttragen und darüber möglichst ohne Vorurteile berichten. Daher ist es wichtig, ein Forschungstagebuch (neben den anderen Aufzeichnungen) zu führen, in das du dir jeden Tag deine Gedanken, Probleme und Freuden der Forschung, aber auch den Ärger bei dieser einträgst. Dies regt zu ehrlichem Nachdenken über dich selbst und deine Forschung an, aber auch zur Selbstkritik.
  7. Du sollst die Muße zum "ero-epischen (freien) Gespräch" aufbringen. Das heißt, die Menschen dürfen nicht als bloße Datenlieferanten gesehen werden. Mit ihnen ist so zu sprechen, daß sie sich geachtet fühlen. Man muß sich selbst als Mensch einbringen und darf sich nicht aufzwingen. Erst so lassen sich gute Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle erstellen.
  8. Du sollst dich bemühen, deine Gesprächspartner einigermaßen einzuschätzen. Sonst kann es sein, daß du hineingelegt oder bewußt belogen wirst.
  9. Du sollst dich nicht als Missionar oder Sozialarbeiter aufspielen. Es steht dir nicht zu, "erzieherisch" auf die vermeintlichen "Wilden" einzuwirken. Du bist kein Richter, sondern lediglich Zeuge!.
  10. Du mußt eine gute Konstitution haben, um dich am Acker, in stickigen Kneipen, in der Kirche, in noblen Gasthäusern, im Wald, im Stall, auf staubigen Straßen und auch sonst wo wohl zu fühlen. Dazu gehört die Fähigkeit, jederzeit zu essen, zu trinken und zu schlafen.

Zu Gebot 7: Den Begriff "ero-episches Gespräch" habe ich in Anlehnung an Homers "Odyssee" entwickelt. In der "Odyssee" fragt stets einer und ein anderer erzählt, wobei sich jeder von beiden in das Gespräch einbringt – dabei wird getrunken und gescherzt. Den Begriff Interview finde ich schlecht, denn er entstammt der Journalistensprache. Als Zögling des Klostergymnasiums zu Kremsmünster lernte ich sechs harte Jahre lang Altgriechisch. Hierbei ist zu erwähnen, daß ich mich als wahrer Altphilologe im besten Sinne des Wortes sehe. Das heißt, ich brachte Liebe (philos – der Freund, der Liebhaber) für das alte Griechisch auf, ohne deswegen ein guter Schüler gewesen zu sein. So erfreuten und erfreuen mich besonders die Schriften Homers, derart, daß ich jetzt auf diese zurückgriff. Schließlich erfährt der Kulturwissenschaftler eine Menge aus der "Odyssee" über das Leben im Alltag der Antike. Im Wort "ero-episch" stecken folgende altgriechische Vokabeln: erotan – fragen und eipon (epos) – reden, mitteilen (Erzählung).