Tradition und Moderne

Wirtschaftsethnologie und Politische Anthropologie - Staatenbildung und die Ökonomie von Kula und Potlatch

Was ist politische Anthropologie?

 Als eine Disziplin, die den Status einer Wissenschaft anstrebt, muss die politische Anthropologie zunächst als ein Verfahren gesehen werden, das politisch Exotische, »andersartige« politische Formen, anzuerkennen und zu erkennen.

Sie ist ein Instrument der Entdeckung und Erforschung der verschiedenen Institutionen und Praktiken, durch welche die Menschen regiert werden, sowie der ihnen zugrunde liegenden Denksysteme und Symbole.

Montesquieu

Montesquieu reiht sich unter die ersten Begründer der politischen Anthropologie ein, als er den Begriff des orientalischen Despotismus entwickelt (der an einen Idealtyp im Sinne Max Webers gemahnt), die dadurch definierten Gesellschaften heraussondert und ihre von jenen Europas abweichenden politischen Traditionen erläutert. Die Bedeutung seines Beitrags geht aus dem Stellenwert hervor, den das marxistische und neo-marxistische Denken diesem politischen Gesellschaftsmodell beimessen.

Tatsächlich hat Montesquieu ein wissenschaftliches Vorgehen eingeleitet, das eine Zeitlang die Aufgaben der Kultur- und Sozialanthropologie festgelegt hat. Er macht eine Bestandsaufnahme, aus der die Vielfalt der menschlichen Gesellschaften hervorgeht. Er bedient sich dazu der Angaben der alten Geschichte, der »Beschreibungen« von Reisenden und der Bemerkungen über fremde Länder. Er skizziert eine Methode der Vergleichung und Klassifikation, eine Typologie. Das führt ihn zu einer besonderen Bewertung des politischen Bereichs, wonach er die Gesellschaftstypen in gewisser Weise nach den Regierungsformen bestimmt. Die Anthropologie hat in der gleichen Anschauungsweise zunächst versucht, die Kultur-»Gebiete« und -Epochen anhand technisch-ökonomischer Merkmale, der Zivilisationselemente und der Form der politischen Strukturen zu bestimmen1. »Das Politische« wird so zu einem wichtigen Kriterium der Unterscheidung von Gesamtgesellschaften und Zivilisationen; manchmal wird ihm ein bevorzugter wissenschaftlicher Status eingeräumt.

R. Lowie

Die politische Anthropologie untersucht sowohl archaische« Gesellschaften, in denen sich ein Staat noch nicht deutlich ausgebildet hat, wie auch solche, in denen ein Staat existiert und sehr vielfältige Gestalten darbietet. Notwendigerweise befasst sie sich mit dem Problem des Staats, seiner Entstehung und seinen ersten Manifestationen: R. Lowie, der eines seiner wichtigsten Werke dieser Frage widmet (>The Origin of the State<) nimmt damit die Interessen der Pioniere der anthropologischen Forschung wieder auf. Sie wird ebenfalls mit dem Problem der segmentären Gesellschaften konfrontiert, in denen es keine zentrale politische Macht gibt; sie sind Gegenstand einer alten und ständig wieder auflebenden Auseinandersetzung. Der von den britischen Autoren häufig zitierte Historiker F. J. Teggart stellt fest:

»Die politische Organisation ist eine Ausnahmeerscheinung, die lediglich für bestimmte Gruppen kennzeichnend ist ... Alle Völker waren zeitweilig oder sind noch immer auf einer unterschiedlichen Basis organisiert.

Festlegung des Politischen

Noch dreißig Jahre später nimmt der amerikanische Soziologe R. Maclver an, dass »die Stammesherrschaft sich von allen anderen Herrschaftsformen unterscheidet« (The Web of Government). Ob es nun einen wesentlichen Unterschied gibt oder ob das politische Phänomen nicht vorhanden ist - beides wird mehr postuliert als bewiesen -, die von der Anthropologie untersuchten Gesellschaften werden jedenfalls herausgesondert. Die Sonderstellung soll in einer verkürzenden Dichotomisierung zum Ausdruck kommen: Gesellschaften ohne politische Organisation/mit politischer Organisation, ohne Staat/mit Staat, ohne Geschichte oder mit einer repetitiven/kumulativen Geschichte usw. Diese Gegenüberstellungen sind irreführend; durch sie entsteht eine erkenntnistheoretisch falsche Trennung, wenn auch die politische Anthropologie während ihrer Entstehungszeit durch die alte Unterscheidung zwischen primitiven und zivilisierten Gesellschaften geprägt war. Mit der besonderen Hervorhebung der »primitiven Systeme politischer Organisation« als Gegenstand der methodischen Untersuchung haben die Anthropologen die Möglichkeit geschaffen, dass fachfremde Theoretiker die Existenz solcher Systeme leugneten.

Die hier angesprochenen Fragen erinnern an die hauptsächlichen Ziele, welche die politische Anthropologie bisher angestrebt hat und welche sie weiterhin bestimmen: eine Festlegung des Politischen, ohne dass dies allein an die sogenannten historischen Gesellschaften oder an das Bestehen eines Staatsapparates geknüpft wird; eine Erhellung der Entstehungs- und Wandlungsprozesse der politischen Systeme durch eine parallel zur historischen durchgeführte Forschung; dabei werden, wenn die Verwechslung zwischen dem »Primitiven« und dem »Ursprünglichen« auch im allgemeinen vermieden wird, jene Zeugnisse bevorzugt untersucht, die sich auf die Anfänge (mit Rousseaus Ausdruck: auf »die wahre Jugend der Welt«) beziehen oder über die Übergänge Aufschluss geben; eine vergleichende Untersuchung, die die verschiedenen Ausprägungen der politischen Realität nicht mehr nur auf eine besondere Geschichte - die Europas - beschränkt, sondern in ihrer ganzen historischen und geographischen Ausdehnung umfasst.

Vom traditionellen Staat zum modernen Staat

Die politische Anthropologie versteht sich in diesem Sinn als eine Anthropologie in der vollen Bedeutung des Worts. Sie trägt so dazu bei, den von R. Aron denunzierten »Provinzialismus« der Politologen einzuschränken und die von C. N. Parkinson gewünschte Weltgeschichte des politischen Denkens zu schreiben.

Zusätzliche Bedeutung erhält das vereinte Vorgehen der politischen Anthropologie und Soziologie durch die Veränderungen, die in den sich entwickelnden Gesellschaften auftreten. Durch sie wird eine aktuelle und nicht retrospektive Erforschung jener Prozesse möglich, die den Übergang von der Stammesverfassung und vom traditionellen Staat zum modernen Staat, vom Mythos zur politischen Doktrin und Ideologie herstellen. Hier ist ein Moment, der sich der Erforschung anbietet, eine jener »Wendepunkt«-Epochen, die Saint-Simon untersuchte, als er die industrielle Revolution und die Entstehung eines neuen Gesellschafts- und Zivilisationstypus deutete. Die gegenwärtige Situation der exotischen politischen Gesellschaften lädt dazu ein, die Beziehungen zwischen traditionellen und modernen politischen Organisationen, zwischen Tradition und Moderne, unter einem dynamistischen Ansatz zu erforschen; da diese Situation die traditionellen Organisationen wahrhaft auf die Probe stellt, müssen sie anders und kritischer betrachtet werden. Die Konfrontation geht über den Rahmen einer Untersuchung der Vielfalt und der Entstehung politischer Formen hinaus und wirft das Problem ihrer allgemeinen Beziehungen, ihrer Unvereinbarkeiten und Gegensätze, ihrer Anpassungen und Wandlungen auf.

' J.-H. Steward stellt dazu fest: »Die sozio-politische Struktur läßt sich leicht klassifizieren und tritt deutlicher als die übrigen Aspekte der Kultur hervor.« In: A. L. Kroeber (Hrsg.): Anthropology Today. 1953, S. 322 A.

2 Teggart, F. J.: The Process of History. 1918, S. 79.

Quelle: Balandier, George: Politische Anthropologie, München 1972

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