Die ersten Anthropologen

Wirtschaftsethnologie und Politische Anthropologie - Staatenbildung und die Ökonomie von Kula und Potlatch

Anthropologen bis 1945

Sie haben die politischen Phänomene vor allem unter genetischem Aspekt betrachtet, aber mit einer solchen Zurückhaltung, dass man ihnen ein Interesse an diesem Bereich hat absprechen können. M. Gluckman spricht von einem gänzlichen Ausfall:  Keiner der ersten Anthropologen hat das Problem des Politischen aufgerollt - nicht einmal Maine, wenn wir ihn als Ahnherrn in Anspruch nehmen wollen; vielleicht deshalb, weil die ersten anthropologischen Untersuchungen sich mit den nicht mehr sehr umfangreichen Gesellschaften Amerikas, Australiens, Ozeaniens und Indiens befassten.4

Trotzdem wird vielfach auf die Pioniere Bezug genommen. Etwa auf den soeben erwähnten und häufig übergangenen Sir Henry Maine, der die berühmte Arbeit  Ancient Law (1861) verfasste. Diese vergleichende Studie der indoeuropäischen Institutionen weist zwei  Revolutionen  im Entwicklungsgang der Gesellschaften nach: den Übergang von den auf dem Status zu den auf dem Vertrag begründeten Gesellschaften und dem Übergang von auf Verwandtschaft beruhenden sozialen Organisationen zu solchen, die auf ein anderes Prinzip zurückgehen -besonders das der  lokalen Nachbarschaft , das die  Grundlage des gemeinsamen politischen Handelns  bildet. Auf diese zweifache Unterscheidung geht eine noch immer unentschiedene Auseinandersetzung zurück. Am häufigsten wird indessen  Ancient Society (1877) von L. H. Morgan angeführt. Morgan, der Friedrich Engels anregte, wird von den meisten modernen Anthropologen als Stammvater verehrt. Er kennt zwei  fundamental verschiedene  und für die frühe Entwicklung der Gesellschaften charakteristischen Arten der Regierung:  Die zeitlich erste beruht auf den Personen und den rein persönlichen Beziehungen; sie kann als Gesellschaft (societas) betrachtet werden ... Die zweite beruht auf dem Territorium und dem Eigentum; sie kann als Staat (civitas) betrachtet werden ... Die politische Gesellschaft ist auf territorialer Struktur organisiert, sie berücksichtigt die Eigentumsverhältnisse ebenso wie die Beziehungen, die das Territorium zwischen den Personen begründet.5 

Bei einer solchen Interpretation gelangt die Anthropologie praktisch dahin, einer großen Reihe von Gesellschaften das Politische abzusprechen. Morgan wurde ein Opfer seines eigenen theoretischen Systems, das sich in diesem Fall teilweise auf die Arbeiten Henry Maines stützt. Mehrere Kapitel seines großartigen Werks hat er der  Staatsidee  gewidmet, aber trotzdem hat er bestritten, dass das System der Clane (primitive Gesellschaft) mit bestimmten, ihrem Wesen nach politischen Organisationsformen (Aristokratie, Monarchie) vereinbar sei. Er hat damit eine in der anthropologischen Theorie immer wieder auflebende Kontroverse hervorgerufen, die I. Schapera 1956 in seinem Buch  Government and Politics in Tribal Societies  erneut aufnimmt.
Quelle: Balandier, George: Politische Anthropologie, München 1972